P.Y. Donzé: Des nations, des firmes et des montres

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Titel
Des nations, des firmes et des montres. Histoire globale de l’industrie horlogère de 1850 à nos jours


Autor(en)
Donzé, Pierre-Yves
Reihe
Les routes de l’histoire
Erschienen
Neuchâtel 2020: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
246 S.
von
Bruno Bohlhalter

Der in Osaka lehrende Schweizer Historiker Pierre-Yves Donzé legt mit seinem neuen Werk eine klassische Geschichte (Business History) über die Uhrennationen, die Uhrenfirmen sowie die Entwicklung ihrer Märkte und Produktionsstrukturen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute vor. Mit diesem traditionellen Ansatz begibt er sich nach eigenem Bekunden auf einen Weg, der den heute an okzidentalen Universitäten lehrenden Historikern als veraltetet erscheinen mag. Ihr aktuelles Interesse liege, nachdem sich die Unternehmen mit ihren Produktionsaktivitäten aus den westlichen Ländern vornehmlich nach Asien verabschiedet haben, nicht mehr bei den industriellen, technologischen und finanziellen Forschungsfeldern, sondern vielmehr auf jenen, die kulturellen Fragen und Konsum betreffen. Doch mit der Verlagerung der industriellen Produktion, so der Autor, ist deren Bedeutung für die globale Wirtschaft keineswegs verschwunden, im Gegenteil: Sie bleibt mit ihren Ressourcen (Kapital, Technologie, Material und Arbeitskraft) essentiell für das Verstehen der modernen, weltumspannenden Wirtschaft.

Donzé erhebt den nicht geringen Anspruch, mit seinem Buch einen Beitrag zur Förderung dieses Verständnisses zu leisten. Am Beispiel der Uhrenindustrie geht er den historischen Entwicklungen minutiös nach und zeigt, wie wichtig es dabei ist, den Blickwinkel auf eine internationale Weite einzustellen. Diesen Anspruch erfüllt er vollumfänglich. Alle Analysen und Darstellungen beleuchten das Geschehen stets aus globaler Sicht. Die Fülle und Konzentriertheit des Werks fördert Erkenntnisse zutage, die in der sich ergebenden kompakten Form neu sind. Dies nicht nur bezogen auf die Evolutionen und Transformationen in den Produktionsländern, sondern auch hinsichtlich der globalen Märkte und der länderübergreifenden Konzentrationen der Firmen. Wer die mannigfaltigen und komplexen Zusammenhänge der heutigen globalen Uhrenindustrie verstehen will, liest dieses Buch mit grossem Gewinn.

Der Inhalt ist in acht Kapitel gegliedert. Das erste analysiert die Lage der Uhrenindustrie in Grossbritannien, Frankreich und der Schweiz in der Mitte des 19. Jahrhunderts, schildert ihre Anfänge in den USA sowie ihr Entstehen in Deutschland. Das zweite Kapitel (1870 bis 1890) illustriert den verfahrenstechnischen Vorsprung, den sich die US-Uhrenindustrie dank des im Schlepptau des Amerikanischen Bürgerkrieges gewonnenen Mechanisierungsgrades sicherte. Die Überlegenheit zeigte sich in der weitgehend erreichten Austauschbarkeit der Einzelteile der Uhr, was enorme Produktivitätsfortschritte brachte. Die Europäer reagierten auf diese Herausforderung sehr unterschiedlich. Die Schweizer holten sukzessive auf, die Franzosen beschränkten sich auf den Heimmarkt und die Briten fielen der Bedeutungslosigkeit anheim. In Deutschland entstanden dagegen Uhrenfabriken, die sich die amerikanischen Produktionsmethoden zunutze machten.

Im dritten Kapitel (1890 bis 1914) wird eine erste Phase des technologischen und industriellen Austausches über die eigenen Landesgrenzen hinaus thematisiert. Amerikanische und japanische Firmen eröffneten Produktionsstätten ausserhalb ihrer Heimmärkte. Die Schweiz eroberte dank erhöhter Mechanisierung ihre einst dominante Stellung auf dem Weltmarkt zurück, gefährdete sie aber erneut mit dem als «Chablonnage» bezeichneten Bestandteileexport. Dieser ermöglichte die Zusammensetzung der Uhr ennet der schweizerischen Landesgrenzen und damit die Verschleppung von Arbeitsplätzen ins Ausland. Das vierte Kapitel (1914 bis 1945) behandelt die Zwischenkriegszeit, welche charakterisiert war durch den Wandel von der Taschen- zur Armbanduhr und durch die Vervierfachung der wertmässigen Nachfrage nach Uhren auf dem Weltmarkt. Deutschland, Japan und Russland etablierten sich als kommende Uhrennationen. Die insgesamt prosperierende Zeit brachte allerdings ein verstärktes Aufkommen von Protektionismus mit sich. So z. B. in den USA, die ihre Uhrenindustrie mit rigiden Zollmassnahmen schützten. Oder in der Schweiz, wo das Uhrenstatut die Preise, die Produktion und den Technologietransfer gesetzlich regulierte.

Das fünfte Kapitel (1945 bis 1970) handelt von der ersten Phase der Globalisierung, verbunden mit einer Welle von ausländischen Direktinvestitionen, die zu einer starken Internationalisierung der Produktion führten. Es folgten gewichtige Innovationen bei den Fabrikationsprozessen, die massive Volumensteigerungen vor allem beim Massengeschäft zuliessen. Davon profitierten in erster Linie Hongkong, aber auch die UdSSR, China und Indien. Die Unternehmensgrössen nahmen weltweit zu und in der Schweiz hielt die Liberalisierung Einzug. Das sechste Kapitel (1970 bis 1985) ist der Quarzrevolution und den damit einhergehenden Rückschlägen in den traditionellen Herstellungsländern gewidmet. Die Quarzuhr war die erste echte Innovation beim Produkt seit langem. Sie fegte die billige mechanische Roskopfuhr, die in der Schweiz zeitweilig fast die Hälfte des gesamten Produktionsvolumens ausmachte, innert weniger Jahre vom Markt. Japan und Hongkong schwangen sich zu Lasten der Europäer und US-Amerikaner zu den volumenmässig wichtigsten Uhrenproduzenten hoch. Die Schweiz wurde durch die Quarzkrise am härtesten getroffen. Dort gingen zwei Drittel der Uhrenarbeitsplätze verloren und die beiden grössten Uhrenkonzerne Société Suisse pour I’lndustrie Horlogère S.A. (SSIH) und Allgemeine Schweizerische Uhrenindustrie AG (ASUAG) erlitten Schiffbruch. Schliesslich sicherte ihnen ein Bankenkonsortium das Überleben, indem es die beiden Konzerne unter Beizug des Beraters Nicolas G. Hayek sanierte, neu kapitalisierte und fusionierte.

Im siebten Kapitel (1985 bis 2010) werden die erratischen Verschiebungen in der Massenproduktion von Uhren nach China und Hongkong thematisiert. Eine zweite Globalisierung trat ein. Sie basierte nicht mehr wie die erste auf Nationen, sondern auf weltweit tätigen Konzernen, wie Swatch Group, Seiko, Richemont, LVMH, Fossil und anderen. Eingehend diskutiert werden auch die Reorganisation der Uhrenindustrie in der Schweiz nach der Krise, der phänomenale Erfolg bei der Vermarktung der «Swatch» und die anschliessend fast gänzliche Hinwendung zum Luxussegment. Das achte Kapitel geht auf den heutigen Zustand der globalen Uhrenindustrie ein und wirft ein Licht auf die neuen Herausforderungen durch die Smartwatches, explizit jene von Apple.

Der Verfasser erbrachte für dieses Werk eine sehr beachtliche Rechercheleistung, galt es doch Archive rund um die Welt zu konsultieren, auszuwerten und zu dokumentieren. Die Studie deckt mit einem Zeitraum von über hundertfünfzig Jahren und dem Einbezug aller Uhren-Produktionsländer und -konzerne der Welt eine enorme historische Spannweite ab. Da versteht sich von selbst, dass der Autor den Mut zur Lücke aufbringen musste. Diesem Umstand ist es wohl geschuldet, dass den Leistungen der Banken im Kontext der Sanierung und Neukapitalisierung der ASUAG-SSIH AG nur zwei Sätze gewidmet werden. Dies obwohl jene Leistungen die unbedingte Voraussetzung für die anschliessende Erfolgsgeschichte der Schweizer Uhrmacherei waren und zudem die bedeutendste Industrierettungsaktion des 20. Jahrhunderts in der Schweiz ohne jede staatliche Beteiligung darstellten. Diese Bemerkung schmälert jedoch den hohen Wert des Werkes für das Verständnis der vielschichtigen historischen Zusammenhänge in der heute weltumspannenden Uhrenindustrie nicht.

Zitierweise:
Bohlhalter, Bruno: Rezension zu: Donzé, Pierre-Yves: Des nations, des firmes et des montres. Histoire globale de l’industrie horlogère de 1850 à nos jours, Neuchâtel 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 186-188. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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